Im dritten Sandor-Buch stehen einige Kinder ganz schön unter Druck. Friedrich braucht immer etwas länger, um den Unterrichtsstoff zu verstehen und benötigt für seine Aufgaben viel mehr Zeit als andere. Im Unterricht kann er daher oft nicht richtig mitmachen, was auf Dauer frustriert und zu unliebsamem Verhalten führt: Stören, Reinreden, Streiche spielen, Widerworte geben usw. Dadurch ist er selbst bei den Klassenkameraden nicht besonders beliebt. Aber auch Jendrik steht unter Druck: Dass seine Eltern getrennt sind, stürzt ihn in innere Konflikte: „Wie kann ich es beiden Eltern recht machen?“ Einerseits möchte er seinen Vater mehr sehen und erwägt sogar, zu ihm zu ziehen. Andererseits möchte er nicht, dass seine Mutter sich von ihm verlassenen fühlt. Dies nennt man einen Loyalitätskonflikt: „Ist Mama traurig, wenn ich gerne bei Papa bin? Ist Papa traurig, wenn ich lieber bei Mama bleibe?“ Jendrik litt unter dem Streit der Eltern vor der Trennung, nun leidet er aber darunter, dass der Vater so weit weg ist. Er erlebt den Stress der Mutter, die sich alleine um ihn und seinen Bruder kümmern muss.
Verzweiflung und Schuldgefühle können schmerzen
Kinder, denen es wie Jendrik geht, bekommen leicht Schuldgefühle. Sie fürchten, den Eltern zur Last zu fallen und dann von den Eltern nicht mehr geliebt, im schlimmsten Fall sogar verlassen oder weggegeben zu werden. Es verunsichert sie auch und macht sie traurig, wenn eigene Bedürfnisse und Lebensfreuden, wie in diesem Fall der neue Hund, von den Eltern als Belastung erlebt und abgelehnt werden. „Ist das, was für mich gut ist, für meine Mama oder meinen Papa schlecht? Macht das, über was ich mich freue, meine Eltern traurig? Wie können wir überhaupt glücklich zusammen leben? Wie können mich meine Eltern überhaupt lieb haben? Sicher bin ich der Grund für all das Unglück in meiner Familie. Bin ich es überhaupt wert, geliebt zu werden?“ Und wenn die Traurigkeit darüber, die Verzweiflung, die Schuldgefühle weiter zunehmen, dann fragt man sich als Kind schon einmal: „Wäre es nicht am besten, wenn es mich gar nicht gäbe?“
Solche Verunsicherungen im Selbstwertgefühl belasten jeden Menschen, Kinder und Jugendliche besonders. Sie können zu den unterschiedlichsten Stress-Symptomen und schlimmsten Falls bleibenden Schäden führen: z.B. Kopf- und Bauchschmerzen, Schlaf-, Ess-, Lern- und Konzentrationsstörungen, Unruhe, Nachtschreck, Zähneknirschen, Nägelbeißen, aggressivem Verhalten und einer Suchtentwicklung, z.B. Computer-, Nikotin-, Alkohol-, oder Drogen sucht. Auch Übergewicht, Schul- und Ausbildungsabbrüche oder Kriminalität sind oft Folgen solcher innerer Not. In der Geschichte haben Jendrik und Friedrich das Glück, dass es in ihrem Umfeld neben Sandor auch noch Hans gibt. Hans kennt sich mit seelischen Dingen aus. Er hilft Friedrich dabei, mit den Überforderungen der Schule zurecht zu kommen. Er weiß, was ein Kind braucht, damit sein Selbstvertrauen wachsen kann, sein Selbstwertgefühl keinen bleibenden Knacks bekommt. Er begleitet Friedrich so wie ein Trainer, wie ein Coach einen Sportler, eine Fußballmannschaft begleitet. Nur eben nicht in sportlichen, sondern in seelischen Angelegenheiten. Er kann Friedrich nicht abnehmen, zur Schule zu gehen oder die Hausaufgaben zu machen. Aber er kann Friedrich zeigen, wie er mit sich selbst umgehen kann, wie er z.B. mit sich selbst vereinbaren kann, eine Zeit an Schulsachen zu arbeiten, dann eine Pause zu machen mit Sport, Bewegung oder einem anderen Hobby. Hans kann Friedrich helfen zu unterscheiden, was ihm gut tut (z.B. Bewegung, Musik, Spiele und Ausflüge mit der Familie, Freunde treffen) und was nicht (z.B. langes Fernsehen, Handy-, Computer spielen oder viel Süßigkeiten essen) und wie er lernen kann, in der Schule weniger zu stören.
Menschen, die wie Hans mit Kindern arbeiten, nennt man Kinder-Psychotherapeuten. Meist sind sie vom Grundberuf her Psychologen, Pädagogen oder Ärzte und haben sich auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen spezialisiert. Sie wissen, was der Seele, was dem Selbstbewusstsein eines Kindes gut tut. Sie arbeiten nicht mit noch mehr Druck und noch mehr Vorwürfen (wie in der Geschichte hier der neue Schuldirektor), sondern mit Verständnis und Einfühlungsvermögen. Indem sie das Kind so respektieren wie es ist, es nicht ändern, sondern ihm nur helfen, mit sich selbst gut umzugehen, kann das Kind seine Selbstachtung und sein Selbstvertrauen wieder gewinnen. Alles, was ein Kind mit seinem Psychotherapeuten bespricht, ist vertraulich. Man kann also alles sagen. Aber natürlich sprechen Psychotherapeuten immer auch mit den Erwachsenen, mit denen das Kind zu tun hat. Also mit seinen Eltern, mit den Lehrern usw. Sie wissen, dass auch diese meist unter Stress stehen. Daher helfen sie ihnen, die Bedürfnisse des Kindes zu verstehen, das Verhalten des Kindes nicht persönlich zu nehmen, dem Kind Anerkennung, Geborgenheit, liebevolle Wärme, Interesse, Schutz, aber auch Orientierung und Sicherheit zu geben. Psychotherapeuten können und wollen die Erwachsenen nicht verändern, aber sie können auch diesen helfen, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht werden. Psychotherapeuten sind also Helfer, sind Trainer. Sie „coachen“ – wie man heute neudeutsch sagt. Wer zu ihnen geht, ist kein Schwächling, sondern ganz im Gegenteil zeigt er dadurch, dass er seine Entwicklung – vorübergehend mit Unterstützung – selbst in die Hand nehmen will.
Dr. Christoph Meinecke ist Kinder- und Jugendarzt, Psychotherapeut und Vater von 5 Kindern. Er lebt in Berlin und ist vorwiegend ärztlich und in der Prävention tätig.
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